Zwischen Belvedere-Apollo und Apollo XVII
Antikenrezeption bei Carlo Maratti und Klassizismus als kulturhistorisches Phänomen
Tilman Schreiber, MA
Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas ist mehr als eine Sammlung von Privat-Assoziationen beziehungsweise mehr als ein Konvolut von ‚untoten‘ Motiven und Themen. Wie der Titel bereits andeutet, fragt das Werk nach einem, die Epochen überspannenden visuellen Gedächtnis, an dem man auch dann Teil hat, wenn man nicht kulturhistorisch gebildet ist. Pointiert formuliert: Warburgs Atlas fragt u.a. nach einem aus unzähligen Fäden bestehenden Seil, das antike Kunst mit gegenwärtiger (Populär-)Kultur verbindet.
Mein Poster adaptiert diese Perspektive, indem es sie auf zwei Themenfelder bezieht. So steht im Zentrum des Entwurfs das OEuvre von Carlo Maratti (1625-1713) beziehungsweise präziser: verschiedene Varianten der Antikennachahmung am Beispiel Apollos, die sich im Werk des ‚principe‘ der römischen Kunst um 1700 finden lassen. Die durch das Format des Posters ermöglichte Zusammenstellung von vielen Werken auf engstem Raum sensibilisiert zum einen für die motivische Vielfalt als solche. Die unmittelbare Konfrontation mit den antiken Werken in der linken Spalte verdeutlicht zum anderen die Variabilität der Rezeptionsvorgänge. So ist etwa der zitathafte Bezug auf antike Werke wie den Belvedere-Apollo im OEuvre Marattis eher die Ausnahme. Viel häufiger trifft man auf eine freie Adaption, die weniger an konkreten Werken als an allgemeinen Darstellungsqualitäten antiker Kunst interessiert zu sein scheint.
Das historische Erkenntnisinteresse mit Blick auf Marattis OEuvre verbindet der Poster-Entwurf mit einem systematischen. So ergibt sich durch die rechte Spalte, die populärkulturelle Referenzen auf die Apollo-Figur versammelt – ganz im Sinne Warburgs – von links nach rechts eine Traditionslinie, die mindestens vom 4. Jh. v. Chr. bis in die Gegenwart reicht. Insofern leistet das Poster im Verhältnis zum Mnemosyne-Atlas durch die reduzierte Anzahl von Objekten eine Zuspitzung. Der Anspruch des Entwurfs geht jedoch darüber hinaus. Die einigermaßen plakative Zusammenstellung der zeitlich extrem heterogenen Objekte möchte Widerspruch provozieren. Oder anders formuliert: Die Konfrontation der Werke soll die Grundlage für ein intensives Gespräch mit (Gruppen von) Betrachtern bieten. Insofern sollen die Eigenqualitäten des Formates ‚Posters‘ auch für die allgemeinen Fragen nach Relevanz und Funktion von Klassizismus in der europäischen Kulturgeschichte bestmöglich genutzt werden.
Tilman Schreiber, MA
Studium der Kunstgeschichte, Filmwissenschaft und Germanistischen Literaturwissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, der Université Paris I – Panthéon-Sorbonne und der Università di Roma – La Sapienza (2012-2019). Seit WS 2020/2021 Promotionsstudium und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Kunstgeschichte und Filmwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität. Promotionsprojekt zur (neo-) klassizistisch geprägten Bildproduktion zwischen 1650 und 1820 (betreut durch Prof. Dr. Johannes Grave u. Prof. Dr. Michael Thimann).
Foto: Anne Günther (Universität Jena)