Ein grenzenloses Selbst
Konstitution von Subjektivität zwischen Persistenz und Differenz
im Werk Nanni Morettis
Susanne Watzenboeck, MA
Das OEuvre des römischen Drehbuchautors, Regisseurs und Schauspielers Nanni Moretti ist autoreflexiv wie kaum ein anderes. In verschiedensten Variationen setzte sich Moretti bisher mit der Frage auseinander, wie man sich im filmischen Medium mit dem Ich beschäftigen kann – trotz, oder gerade weil, er als Regisseur und Hauptdarsteller seiner Filme Subjekt und Objekt des Produktes zugleich ist. Ausgangspunkt der Dissertation ist es, dass dieses Spezifikum der morettianischen Filme nur unzureichend über deren bisherige Einordnung in die Genres des Autorenfilms, der filmischen Autobiografie oder der Fiktion erforscht werden kann, liegt diesen Kategorien doch eine konzeptuelle Binarität der Kategorien des Realen und der Fiktion zugrunde. Diese scheint einer adäquaten Analyse der Filme Morettis jedoch eher hinderlich, denn der Regisseur macht es sich in seiner kinematografischen Praxis dezidiert zur Aufgabe, das Verhältnis zwischen beiden „Polen“ als Frage zu formulieren und in verschiedensten Stilen und Konstellationen zu inszenieren. Dies trifft im besonderen Maße auf den Prozess der Identitätskonstruktion zu, der als permanentes Oszillieren zwischen Realität und Fiktion sowie Permanenz und Variation verbildlicht wird. Ziel der Dissertation ist es, aus phänomenologischer Perspektive und über den Einbezug interdisziplinärer Theorien zu Bild und Subjektivität, Autorschaft und Identität einen neuartigen methodischen Zugriff zu entwickeln. Dieser soll Morettis filmischen Kosmos konkret auf synthetisierende und differenzierende Strategien der Selbst-Reflektion sowie rekurrierende Topoi hin befragen, um zu zeigen, dass es sich bei Morettis Oeuvre um ein Kino der der Kontinuität handelt, dessen Komplexität sich essentieller Weise aus seinem evolutionären und seriellen Charakter generiert. In zwölf untersuchten Filmen ringen Morettis Protagonisten um ein kohärentes Selbst, wobei Fragen der individuellen und nationalen Identität stets mit Strategien der Repräsentation in Verbindung gebracht werden. Dadurch konstituiert sich Subjektivität auf verschiedensten Reflexionsebenen – von Morettis physischem Körper als visuelle Konstruktion bis hin zum Körper des filmischen Apparats, der explizit in die Analyse dessen einbezogen wird, was es bedeutet, im und durch das Kino eine Person zu sein.
Abb.: Nanni Moretti in den Rollenbildern seiner 12 Spielfilme, © Sacher Film Rom
Susanne Watzenboeck, MA
Susanne Watzenboeck studierte Kunstgeschichte und Anglistik und Amerikanistik an der Karl-Franzens-Universität in Graz. In ihrer Bachelorarbeit analysierte sie die künstlerische Bedeutung des Mediums Film im Werk von Guy Debord und innerhalb der Situationistischen Internationale. Während ihres Studiums absolvierte sie zahlreiche Praktika im Bereich der Kuration, unter anderem in der Österreichischen Nationalgalerie Belvedere, im Kunsthaus und der Neuen Galerie Graz, im Israel Museum Jerusalem und im Beit Hatefutsot in Tel Aviv. 2015 schloss sie ihr Masterstudium mit einer Arbeit ab, die das Zusammenspiel von Phänomenologie und Bildwahrnehmung in der Analyse zeitgenössischer Malerei untersuchte. Seit 2017 verfolgt sie ihr Dissertationsprojekt zum Werk von Nanni Moretti, das von Prof. Sabine Flach and der Karl-Franzens-Universität Graz betreut wird. Die Dissertation untersucht die kinematografische Darstellung von Identität und Bildlichkeit sowie deren ständiges Oszillieren zwischen Realität und Fiktion in den Filmen Morettis. Von 2018 bis 2020 war sie Promotionsstipendiatin an der Bibliotheca Hertziana in der Abteilung von Prof. Tanja Michalsky, wo sie innerhalb der Forschungsgruppe Geografie della migrazione an einer Reihe von Forschungsseminaren und einer Publikation arbeitete, mit Prof. Dominique Blüher ein Research Seminar über die Ästhetik und Politik der Selbstdarstellung im Werk von Agnès Varda veranstaltete, sowie im Rahmen der Seminarwoche Roma. Portrait einer Stadt in 5 Filmen des Departements für Architektur der ETH Zürich einen Exkursionstag in Rom im Zeichen des städtischen Storyboards von Nanni Morettis Caro Diario leitete. 2020 bis 2022 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Department für Kunst- und Kulturwissenschaften an der Donau-Universität Krems und kuratorische Mitarbeiterin in der Abteilung für Kunst nach 1960 in den Landessammlungen Niederösterreich. Seit September 2022 ist sie als kuratorische Assistenz an den Kunstsammlungen der Akademie der bildenden Künste Wien tätig.
Foto © Enrico Fontolan