Zugänglichkeit - Vermittlung - Teilhabe
Dimensionen der sakralen
Pilgerreise auf dem Sacro Monte di Varallo
Sophie Elaine Reiser, MA
Im Mittelpunkt meines Dissertationsprojektes steht das sakrale Areal des piemontesischen Sacro Monte di Varallo. In seinem Aufbau unterliegt es ähnlichen Mustern, wie sie auch am Mnemosyne-Konzept Aby Warburgs zu beobachten sind. Die Pilgerstätte, welche sich zwischen den norditalienischen Metropolen Mailand und Turin befindet, fungiert seit dem späten 15. Jahrhundert als Surrogat einer Reise ins Heilige Land. In über vierzig Kapellen wird die Möglichkeit offeriert, die Passionsmomente Christi in veristisch inszenierten Tableaus nach- und mitzuerleben. Durch das Zusammenspiel dieser lebensgroßen und polychrom gestalteten Figurenarrangements erfahren die Pilger*innen die Passion nicht nur als biblische Geschichtserzählung, sondern gleichwohl als medial inszenierte Ereignisse.
Der Sacro Monte di Varallo – so meine These – ist dabei als Areal der interaktiven Anteilnahme und emotionalen Passionserfahrung konstruiert, das von den Pilger*innen sowohl physische Handlungsbereitschaft als auch imaginäres Einfühlungsvermögen einfordert.
Bei einem Besuch vor Ort war es den Pilger*innen seit jeher möglich, sich mit den dreidimensionalen Figurenkonstellationen der Kapellen in Relation zu setzen und so deren emotionale Mimik und Gestik zu spiegeln. Zeitweise ließen sich die Terrakottaskulpturen umrunden und berühren, wodurch sie für die Besucher*innen haptisch erfahrbar wurden. In diesem Zusammenspiel aus visueller und körperlicher Wahrnehmung können die unterschiedlichen Szenen im sukzessiven Abschreiten als Ganzes erlebbar werden, indem sie sich den Augen der Betrachter*innen chronologisch offenbaren. Dies wurde seit jeher durch die Hinzunahme historischer Bild- und Textquellen unterstützt, welche während eines Besuchs auf dem Sacro Monte di Varallo studiert wurden. Dabei handelt es sich vornehmlich um poetische Beschreibungen des Areals, welche klare Handlungsanleitungen für die Leser*innen beinhalten und so die Pilgerreise über den Heiligen Berg strukturell zu regeln scheinen.
Im Kontext der Early Career-Sektion des Forums Kunstgeschichte Italiens möchte ich den systematischen Aufbau des Sacro Monte di Varallo in seinem Potential als erweiterte Form der Mnemosyne Warburgs begreifen. Dabei wird deutlich, wie die Motive der Passion im unmittelbaren Zusammenspiel der unterschiedlichen Medien weitergetragen werden. So beziehen sich die einzelnen Bild- und Figurensysteme der Kapellen durch ihre Erzählfolge oder
denselben stilistischen sowie kompositorischen Aufbau aufeinander. Die Verknüpfung der singulären Stationen geschieht dabei keineswegs automatisch, sondern fordert die aktive Integration der Pilger*innen als agierende Instanz. Durch das Abschreiten der Passionswege treten die einzelnen Szenen innerhalb der Kapellen in einen gemeinsamen Verbund. Zusätzliche Eindrücke erhalten die Pilger*innen aus den bereits erwähnten Pilgerbüchlein, die ihren Weg über das Areal mithilfe schlichter Holzschnitte und poetischer Texte begleiten. Die eigentliche Leistung der Besucher*innen besteht darin, das Wiederaufgreifen der Orte, Figuren und Motive während ihrer Pilgerreise zu erkennen und sich selbst innerhalb dieser Synthese emotional und
körperlich zu verorten.
In jenem Kontext tritt das variantenreiche Spektrum schriftlicher Vermittlungsoptionen in den Vordergrund meines Interesses. Dank meiner Sichtung historischer Briefe, Pilgerbücher und Beschreibungen des Sacro Monte aus der Zeit des Cinquecento und Seicento gelingt ein Einblick in die unterschiedlichen Zeitspannen des Areals. Zusätzlich erlaubt meine Analyse des umfangreichen Korpus historischer Dokumente eine gattungs-, epochen- und stilübergreifende Betrachtung. Dabei lassen sich Rückschlüsse auf die performativen Möglichkeiten der Teilhabe sowie der mobilen Funktion der zeitgenössischen Pilger*innen ziehen. Die poetischen Verse der ‚Pilgerguides‘ offenbaren beispielsweise klare Aussagen zum korrekten Verhalten vor Ort, die teilweise einem reglementierenden Ordnungsprinzip zu unterliegen scheinen. Darüber hinaus können aus handschriftlichen Dokumenten individuelle Verhaltensweisen der Besucher*innen abgeleitet werden, welche variable Handlungsabweichungen in den systematischen Vorgaben offenlegen. Jenes reziproke Changieren zwischen Regel und Variation fördert und fordert meines Erachtens im Besonderen die (An)Teilnahme der Besucher*innen während ihrer Pilgerreise auf dem Sacro Monte. Interessant ist dabei die Verschaltung diverser Rezeptions- und Partizipationsangebote der Texte, die sich ebenso im komplexen Aufbau des alpinen Geländes aufzeigen.
Mein Forschungsprojekt im erweiterten Sinne als Warburgs Mnemosyne-Schaubild zu präsentieren, bietet die Möglichkeit, die unterschiedlichen Komposita des Sacro Monte di Varallo in ihrer Verschränkung als Ganzes zu visualisieren. Darüber hinaus wird offengelegt, wie durch das Zusammenspiel der Passionserfahrung – via Text, Bild und Architektur – die Momente der biblischen Historie mit der Lebensrealität der Betrachter*innen verschaltet werden, obwohl diese weder zeitlich noch räumlich beieinanderliegen. Durch die interaktive Teilhabe und Teilnahme der Pilger*innen werden jene Sequenzen über den szenischen Aufbau des Berges partizipativ umgesetzt. Die Pilger*innen werden somit zur mobilen Instanz – zu wandelnden Vermittler*innen im Warburgschen Netz – und zum elementaren Baustein des Systems selbst.
Sophie Elaine Reiser, MA
Sophie Elaine Reiser (geb. 1992, Karlsruhe) studierte Kunst-, Literatur- und Medienwissenschaften an der Universität Konstanz. Ihren Master absolvierte sie 2018 mit Auszeichnung. Seit 2019 promoviert sie zur Rezeptionsgeschichte des Sacro Monte di Varallo im Fachbereich Kunstwissenschaft an der Universität Konstanz. Das Dissertationsprojekt wird von Prof. Dr. Steffen Bogen (Universität Konstanz) und Prof. Dr. Karin Leonhard (Universität Konstanz) betreut. Im selben Jahr nahm Sie mit einem eigenen Beitrag an der Vortragsreihe „(RE)PRÄSENTATION DES UNSICHTBAREN. VORMODERNE WECHSELWIRKUNGEN ZWISCHEN MATERIALITÄT UND KONZEPTUALITÄT“ am Kunsthistorischen Institut der Universität Zürich teil. Seit 2020 erhält Sophie Reiser ein Vollstipendium der Promotionsförderung des Evangelischen Studienwerks Villigst. Parallel dazu leitete sie 2020 und 2021 eigene Lehrveranstaltungen an der Universität Konstanz.