Raum | Gestalten
Das genuesische Arkadien in den mythologischen Ausstattungsprogrammen der Durazzo-Residenzen um 1700
Rieke Dobslaw, MA
„Aber wenn du gehst, […] wende dein Herz nicht um, bis zu der Grenze der genuesischen Meere. […] In diesen schönen Bergen jubelt Bacchus, und die schönen Gestade überschüttet Pomona mit ihren Schätzen, und immer lacht die bekränzte Flora. […] Und am Ufer [liegen] grüne Gärten, wie jene von Atlas […]. So sprach Triton, und zog weiter durch die Wellen.“1
In den Versen des ligurischen Dichters Gabriello Chiabrera (1622) leben die Gestalten der an-tiken Mythologie in der Umgebung der Hafenstadt Genua. Die Erzählungen von Bacchus, Pomona, Flora, Atlas und Triton stammen aus den „Metamorphosen“, einem Epos des römi-schen Dichters Ovid. Chiabrera versetzt die Protagonist:innen der antiken Literatur kurzerhand nach Ligurien: Er lässt den Meeresgott Triton davon berichten, wie die Gottheiten der Blüte und Ernte die ge-nuesische Küste beleben. Sie erhalten ei-nen Platz in der realen Welt und verwan-deln zugleich die ligurischen Berge in ei-nen phantastischen Ort. Genua und sein Umland werden zu einem irdischen Arka-dien – einer antikischen Idealwelt, die durch die Poesie an einen realen Ort ver-setzt wird.2
Wie die Poesie ist auch die bildende Kunst in der Lage, mythologische Ge-stalten in der realen Welt zu platzieren und dadurch arkadische Orte zu erschaf-fen: In den zahlreichen Villen und Pal-ästen Genuas tummeln sich die Götter und Nymphen in Form von Wandmale-reien, Skulpturen und Möbelstücken.3 Dadurch entsteht eine Wechselwirkung zwischen dem Raum und den Gestalten – während der Raum eine mythische Überhöhung erfährt, erhalten die Figuren eine Form, eine Verkörperung. Eine Skulptur, die etwa Diana, die Göttin der Jagd, darstellt, lässt sich zwar als isoliertes Objekt betrachten. Platziert man eine solche Skulptur jedoch in einem Garten, so wirkt das Kunstwerk über sich selbst hinaus: Es verwandelt den gesamten Garten in den Schauplatz einer ovidischen Erzählung (Abb. 1). Ein Deckengewölbe hingegen wird durch die Darstellung des Musengottes Apoll zu einem olympischen Götterhimmel (Abb. 2). Die Darstellung von Mythen in der Palast- und Villendekoration ist ein Spiel mit Realität und Fiktion, mit materiellem und illusionärem Raum.4 Das geplante Projekt geht von zwei Raumebenen aus: Es analysiert einerseits den Raum Genua mit seinen Protagonist:innen, Institutionen und Objekten und andererseits das fiktive Arkadien, das als gedachter Raum über die reale Stadt und ihr Umland gelegt wird. Die zentrale These lautet, dass die Darstellungen mythologischer Gestalten als Bindeglied zwischen diesen beiden Raumebenen fungieren. Ziel der Dissertation ist es, die Vorstellung des genuesischen Arkadiens um 1700 zu fassen und herauszuarbeiten, wie sich diese Gedankenwelt in der Ausstattung der Villen und Paläste materialisiert. Methodisch leistet die Arbeit damit einen Beitrag zur kunsthistorischen Bild-Raum-Wissenschaft, die Räume nicht nur als baulich begrenzte Areale, sondern als Geflecht aus Bildern, Sprache, Handlungen und Beziehungen versteht.5
1 Gabriello Chiabrera: Le grotte di Fassolo, 1622, zitiert nach: Delle rime di Gabriello Chiabrera. Parte Terza. Rom 1718, S. 150-151, übersetzt durch die Verfasserin.
2 Lauro Magnani: L’altra superficie del mito: decorazione e tematiche mitologiche tra XVII e XVIII secolo a Genova, in: Mario Alberto Pavone (Hg.): Metamorfosi del mito. Pittura barocca tra Napoli Genova e Venezia, Mailand 2003, S. 31–39, hier S. 31; Petra Maisak: Arkadien. Genese und Typologie einer idyllischen Wunschwelt, Frankfurt 1981, S. 13, 129-134.
3 Ausst. Kat. Washington 2020 – Jonathan Bober/ Piero Boccardo/ Franco Boggero (Hg.): A Superb Baroque. Art in Genoa 1600 – 1750, Ausstellungskatalog National Gallery of Art, Washington, Princeton 2020, S. 281-283.
4 Ezia Gavazza: Lo spazio dipinto. Il grande affresco genovese nel ‘600, Genua 1989, S. 9; Lauro Magnani: Il tempio di Venere. Giardino e villa nella cultura decorati, Genua 1987, S. 162-163.
5 Julia Burbulla: Kunstgeschichte nach dem Spatial Turn, Bielefeld 2015., S. 59-61.
Abb. 1
Unbekannte:r Künstler:in: Brunnen mit Skulptur der Diana und sitzendem Satyr, Villa Faraggiana, Anfang des 18. Jahrhunderts, Foto: Rieke Dobslaw.
Abb. 2
Domenico Parodi: Bacchus, Deckenfresko, Galerie des Pa-lazzo Balbi Durazzo, um 1725, Foto: Rieke Dobslaw.
Rieke Dobslaw, MA
Rieke Dobslaw hat Kunstgeschichte mit Schwerpunkt Kuratorische Studien in Göttingen und Venedig mit einem Stipendium der Friedrich-Ebert-Stiftung studiert. Sie hat Studienkurse und Praktika in Florenz, Rom und Venedig absolviert und arbeitet seit 2021 bei der Niedersächsischen Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Sie promoviert in Göttingen zu mythologischen Dekorationsprogrammen im frühneuzeitlichen Genua und ist seit 2023 Promotionsstipendiatin der Friedrich-Ebert-Stiftung.